Das Netzwerk der Göttinnen oder: Wie der trojanische Krieg durch Klüngel hätte enden können

Gerda Laufenberg

Die Versammlung war vollständig. Wie immer hatten die griechischen Göttinnen steif und hoheitsvoll die besten Plätze eingenommen, ihnen gegenüber becherte die italienische Delegation eine Flasche Chianti nach der anderen, die Matronen aus Germanien rückten ihre Hauben zurecht, während die Damen aus Ägypten, Indien und China anmutig ihren Tee schlürften.
“… Warum also dieses unsinnige Gemetzel in Troja? Und warum, so frage ich dich, Athene, Klügste der Klugen, und dich, Aphrodite, Schönste der Schönen, warum beteiligt ihr euch an diesem Massaker? Haben wir nichts Besseres zu tun, als blindwütigen Helden den Speer zu halten!” Juno, die vor der Versammlung sprach, setzte eine wirkungsvolle Pause.
“Unsere kluge Athene ist sauer, weil Paris den Apfel an Aphrodite gereicht hat – er fand sie halt schöner. Jetzt hilft Athene den Griechen und Aphrodite unterstützt die Trojaner. Das hat sich doch bis zum letzten Ziegenbock herumgesprochen!”
Artemis, Göttin der Jagd und der wilden Tiere, schlug sich grinsend mit einem Pfeil auf die entblössten Schenkel. Ihr Kollegin Diana aus Italien leerte prustend den Becher.
Juno, in Rom unangefochten als guter Geist der Weiblichkeit, zuständig für die Schwangerenbetreuung und den Keuschheitsschutz, war sauer. Sie sorgte sich, obwohl gebietsmässig gar nicht zuständig, um den kriegsgefährdeten trojanischen Nachwuchs, hatte tagelang mutterseelenallein an ihrer eindrucksvollen Rede gearbeitet, und was war der Dank dafür? Ein unverschämtes Grinsen der Jagdgöttinnen und die unerforschlichen Blicke der anderen. Und was tuschelte ihre italienische Kollegin Fortuna, mit der sie bei der Anreise kaum geredet hatte, jetzt schon wieder mit Minerva, dieser römischen Kopie einer Athene?
“Wir haben uns gerade noch einmal über die Absprachen beim letzten Treffen ausgetauscht. Wer hat damals eigentlich das Protokoll geschrieben? Wir haben keins bekommen…!”
“Jetzt hört sich doch alles auf!” Freya schlug mit ihrer nordischen Faust wütend auf den Tisch. “Ich habe das Protokoll noch am nächsten Tag an euch verschickt. Meine Walküren sind zuverlässig, unsere Post kommt immer an. Ganz anders als die italienische!”
Nur die Matronen nickten. Den Protest der Italo-Fraktion unterbrach Ganga, die indische Flussgöttin. “Ich habe für jede Kopien mitgebracht. Wir verteilen sie und ihr könnt alles nachlesen.” Die Gesellschaft staunte. In Indien wohnten doch kluge Köpfe. Nur Tokapcup-kamuy, die japanische Sonnengöttin, lächelte noch unergründlicher als sonst; sie würde nicht verraten, dass sie mit der indischen Kollegin die Idee mit den Kopien ausgebrütet hatte. Übrigens zusammen mit Mazu, der chinesischen Himmelskaiserin. Die westlichen Göttinnen, die immer so schlampten, brauchten von den fernöstlichen Vorgesprächen erst einmal nichts zu wissen.
Kali, die etwas dunklere Göttin aus Indien, erhob sich drohend. “Ich hoffe sehr, dass sich das Thema Troja mit einem Hinweis auf Absatz 3 unseres Protokolles erledigen lässt:. Da steht: :…Wir, die Göttinnen dieser Welt, benötigen alle unserer Kräfte, um die Erde fruchtbar, bewohnbar und gastlich zu erhalten. Wir setzen deshalb gemeinsam unsere Kräfte und Fähigkeiten ein, um Kriege zu verhindern.”
“Aber wenn Athene doch immer eine Rüstung trägt …”
Eos, Göttin der Morgenröte, errötete bei ihrer vorlauten Bemerkung.
“Im Göttinnennetzwerk kann jede anziehen, was sie will,” raunzte Athene zurück.
Freya zupfte an ihrem etwas freizügigen Rock.
Isis beugte sich zu Kybele hinüber und nahm von ihr ein Papier entgegen.
“Wir haben uns über das Problem im Vorfeld ausgetauscht und ich darf die edle Versammlung jetzt bitten, über folgenden Punkt abzustimmen”.
Sie strich das Papier glatt und lächelte Kybele zu. Das Lächeln der östlichen Göttinnen, die eigentlich immer lächelten, verstärkte sich. Freya kam sich plötzlich sehr alleine vor. Warum hatte sie überhaupt keinen Kontakt zu diesen Kolleginnen? Nicht mal mit den Matronen hatte sie sich vorher ausgetauscht.
“Athene und Aphrodite werden gebeten, ihre Beteiligung am trojanischen Krieg umgehend aufzugeben und die Helden zu entwaffnen. Athene reist zu ihren Kolleginnen nach Persien zu einem Gedankenaustausch …”
Kybele erhob ihr Gesicht von dem Papier und raunte Athene zu: “Dafür stelle ich dir gern meinen Wagen zur Verfügung. Übrigens – das wird dich freuen – ich leiste mir jetzt ein Gespann aus Panthern und Löwen!”.
Zu Aphrodite gewandt fuhr sie fort: ” Und du, schönste Liebesgöttin, wirst im Auftrag des Netzwerkes einige Wochen bei Parvati in Indien zu verbringen. Ihr Wissen wird dir bei deinen hiesigen Aufgaben helfen.”
“Parvati, wer iss`n das ?” Eos errötete schon wieder.
“Die treusorgende Gattin von Shiva. Sie ist schön – und treu – und klug… Wir finden, dass ein Austausch von Kompetenzen in unserem Netzwerk dringend angesagt ist.”

Alle nickten. Nur Freya schaute etwas düster. Irgendwie hätte es ihr gefallen, wenn man eine der Kontrahentinnen zu ihr geschickt hätte. In Sachen Weiterbildung hätte sie schliesslich auch einiges zu bieten gehabt. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, dachte sie – und stimmte für den Antrag.