Sei wie das Veilchen im Moose

Gerda Laufenberg

Sei wie das Veilchen im Moose,
sittsam bescheiden und rein
und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein.
(Spruch, der drei mal in meinem Poesie-Album steht…)

Es war einmal ein Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und so. Jedenfalls erzählt man sich das – und irgendwas wird schon dran sein. Das Veilchen hockte mit vielen anderen Veilchen im Halbdunkel und kaum einmal wagte es den Kopf ins Licht zu recken.
“Veilchen recken sich nicht nach oben”, sagte die Veilchenmutter “das ist unfein”.
Und alle Veilchen blickten sanft nach unten und wollten nicht unfein sein. Nur hin und wieder, wenn die Veilchenmutter einmal schlief oder sich gerade besonders tief duckte, wagte das Veilchen nach oben zu blicken. Es sah, wie die roten und die gelben Rosen immer höher hinauswuchsen, wie selbst die weißen Margeriten größer und größer wurden, wie überhaupt fast alle Blumen um sie herum sich gegenseitig überboten. Am tollsten trieben es der Rittersporn und der Fingerhut, die in einsame Höhen schossen und von oben herab kluge Bemerkungen machten.
“Üb immer Treu und Redlichkeit” verkündete der Rittersporn den kleinen Veilchen unten im Moos, während er mit sämtlichen Bienen anbändelte, die vorbei flogen.
“Bescheidenheit ist eine Zier” war ein ständiger Ausspruch des Fingerhutes. Den gab er immer dann von sich, wenn er einem Veilchen die letzten Sonnenstrahlen wegnahm, und die Veilchen wussten sehr wohl, dass sie es waren, zu deren Zierde die Bescheidenheit herhalten musste. Und wenn, was selten genug vorkam, ein Veilchen einmal leise protestierte, weil ihm die Luft da unten zu eng wurde, wussten Rittersporn und Fingerhut gleich zu verkünden:
“Die letzten werden die ersten sein”.
Wann das sein würde, blieb unklar. Eines Tages hatte das Veilchen die Nase voll. Wieder einmal sah es, wie die Rose sich reckte, wie sie die bewundernden Blicke von Rittersporn und Fingerhut auf sich zog und wie sämtliche Bienen um sie herumschwirrten.
“Mist, verdammter, ich bin auch noch da !!!”.
Sie sagte das so laut, dass sämtliche Veilchen erschreckt den Kopf einzogen, wodurch unser Veilchen plötzlich recht gut zu sehen war. “He, ihr da oben” schrie das Veilchen, das plötzlich eine unverhoffte Sicht auf Himmel und Bienen bekam, “schaut einmal hierhin. Hier unten ist es kühl und angenehm. Meine blaue Farbe ist tiefer als die des Himmels und mein Duft feiner als Rosenduft.”
Sie sagte das einfach so, weil sie das immer schon einmal hatte sagen wollen und weil es ja wohl auch stimmte. Die Bienen waren verblüfft. Eine flog vorsichtig nach unten und betrachtete das ungewohnt tiefe Blau des Veilchens.
“Und wenn Du erst mal unseren Veilchen-Nektar schlürfst, wirst Du wissen, was Du bisher versäumt hast”.
Das Veilchen staunte selbst über so viel Unbescheidenheit, aber alles klappte wunderbar und die Weltordnung brach nicht zusammen. Das Bienchen schlürfte Honig vom Feinsten, die anderen Veilchen reckten sich gleichfalls ein wenig und immer mehr Bienen fanden den Weg zu ihnen.
Am nächsten Tag beschlossen die Veilchen folgenden Spruch zu üben und an alle kommenden Generationen weiterzugeben:

sei wie das Veilchen im Moose,
duftend an kurzem Stiel,
dann brauchen wir keine Rose
denn die kostet viel zu viel.