Der Niedergang der Rumpelstilzchen-Theorie oder: Ach wie gut, dass er nicht weiss…

Gerda Laufenberg

Es war einmal eine junge Frau, die sehr viel gelernt und sehr viel studiert hatte und jetzt wollte sie ihr Wissen in der weiten Welt anwenden.
Sie bewarb sich bei einem großen Wirtschaftsverlag und da fand sie auch eine Anstellung als Lektorin. “Sie müssen jeden Monat ein gutes Manuskript finden, das ist in unserem Haus so üblich. Schauen Sie sich um, was auf dem Markt ist, spinnen sie meinetwegen Stroh zu Gold – aber werden Sie fündig!”
Der Chef-Lektor sagte das lächelnd und fügte hinzu: “Übrigens, wenn Sie es nicht schaffen, müssen wir uns schon während der Probezeit trennen.” Irgendwie schien er sich darauf zu freuen.
Die junge Frau war ziemlich erschrocken, denn sie hatte viel gelernt, aber nicht, wie man aus Stroh Gold macht.
Die Manuskripte, die ihr morgens auf den Schreibtisch flatterten, waren schlecht. Alles Durchschnitt, kein Thema, das nicht schon längst tausendfach behandelt worden wäre, keine Idee, die sie begeistert hätte.
So arbeitete sie drei Wochen lang und fast verzweifelte sie. Von wegen Stroh zu Gold… Das Stroh, das manche Autorinnen ihr auf den Schreibtisch legten, war gerade mal für den Misthaufen gut genug. Was sie brauchte, waren Namen, gute Namen von guten Leuten – aber wer würde ihr die nennen?
Dann hatte sie eine Idee. Schließlich hatte sie während des Studiums viele kluge Leute kennengelernt, warum nicht einmal mit denen sprechen.
Zuerst sprach sie mit ihrem Professor. Der zierte sich erst und tat geheimnisvoll wie Rumpelstilzchen. Da lobte die junge Frau ihren Verlag über den grünen Klee, beschrieb, wie sich auch ausländische Verlage um die Druckrechte rissen und welchen Einfluss sie geltend machen könne… Erwartungsvoll rückte der Professor eine neues Manuskripte heraus und dann noch die Namen einiger Kollegen. Auch wenn er deren Arbeit nicht sonderlich schätzte, so liebte er es doch, in ihrem erlauchtem Kreis genannt zu werden. Vielleicht könne man die Arbeiten in einem Band zusammenfassen?
Das dachte sich auch die junge Frau. Allein schon wegen der wohlbekannten Namen der Autoren würde die Sache ein Erfolg. Sie sollte ja aus Stroh Gold machen. Also ließ sie sich zum Professorenstammtisch einladen.

Dann ging sie zu Marion, ihrer Freundin aus WG-Tagen. Die brütete gerade an einem Konzept für neue Marketing-Strategien, gedacht vor allem für Existenzgründerinnen aus dem akademischen Bereich. “Lieber eine eigene Schule statt in den Schuldienst”, flachste Marion. “Noch ist alles Theorie, aber wir planen schon die ersten Seminare mit dem Arbeitsamt”.
Wir – damit meinte sie ihre Freundin Sabine, deren Onkel ein einflussreicher Wirtschafts-boss war, was Sabine gnadenlos ausnutzte. Sabine würde auch sofort begreifen, wie vorteilhaft es wäre, wenn zur Theorie gleich schon das Buch mitgeliefert würde: Jede Verwaltung und jede arbeitslose Akademikerin, jede Personalabteilung eines jeden Wirtschaftsbetriebes müssten das Buch kaufen. Sabine könne da über ihren Onkel eine Menge bewegen…
Die Details waren nur noch eine Frage von zwei Flaschen Rotwein.

Am Ende des ersten Monats stellte die junge Frau drei verschiedene Buchprojekte vor, jedes bestsellerverdächtig, eines davon die Memoiren eines Wirtschaftsbosses.
“Da muss Ihnen doch der Teufel bei geholfen haben!” meinte ihr Chef-Lektor, und es klang neidisch.
“Nein, ich habe Rumpelstilzchen zum Sprechen gebracht”, antwortete die junge Frau. Und dachte bei sich: “Ach wie gut dass er nicht weiß, dass ich so viele Leute kenne…