Klüngelgeschichte 1: “Wie das Veilchen im Moose”
Erfolgreich sein, gesehen werden und für andere interessant sein: Das möchten wir alle. Doch manchmal fühlen wir uns klein, weil man es uns schon als Kind eingeredet hat. Doch wer seine Fähigkeiten erkennen kann, wächst über sich hinaus und wird von anderen wahrgenommen und geschätzt.
Dieser Spruch stand dreimal in meinem Poesiealbum:
Sei wie das Veilchen im Moose,
sittsam bescheiden und rein
und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein
Sittsam, bescheiden und still war das Veilchen. Jedenfalls erzählt man sich das – und irgendwas mag schon dran sein. Das Veilchen hockte mit vielen anderen Veilchen im Halbdunkel und wagte kaum den Kopf ins Licht zu recken. “Veilchen recken sich nicht nach oben”, sagte die Veilchenmutter, “das ist unfein”.
Im Schatten der anderen
Alle Veilchen blickten sanft nach unten und wollten nicht unfein sein. Nur hin und wieder, wenn die Veilchenmutter schlief oder sich gerade tief duckte, wagte das Veilchen nach oben zu blicken.
Es sah, wie die roten und die gelben Rosen immer höher hinauswuchsen, wie die weißen Margeriten größer und größer wurden, wie überhaupt fast alle Blumen um es herum sich gegenseitig überboten. Am tollsten trieben es der Rittersporn und der Fingerhut, die in einsame Höhen schossen und von oben herab kluge Bemerkungen machten.
“Üb immer Treu und Redlichkeit” verkündete der Rittersporn den kleinen Veilchen unten im Moos, während er mit sämtlichen Bienen anbändelte, die vorbeiflogen.
“Bescheidenheit ist eine Zier” war ein ständiger Ausspruch des Fingerhutes. Den gab er immer dann von sich, wenn er einem Veilchen die letzten Sonnenstrahlen wegnahm, und die Veilchen wussten sehr wohl, dass sie es waren, zu deren Zierde die Bescheidenheit herhalten musste. Und wenn, was selten genug vorkam, ein Veilchen leise protestierte, weil ihm die Luft da unten zu eng wurde, wussten Rittersporn und Fingerhut gleich zu verkünden: “Übt euch in Geduld. Die letzten werden die ersten sein”.
Eigene Fähigkeiten erkennen und einsetzen
Wann das sein würde, blieb unklar. Eines Tages hatte das Veilchen die Nase voll. Wieder sah es, wie die Rose sich reckte, wie sie die bewundernden Blicke von Rittersporn und Fingerhut auf sich zog und wie sämtliche Bienen um sie herumschwirrten.
“Mist, verdammter, ich bin auch noch da!”
Sie sagte das so laut, dass sämtliche Veilchen erschreckt den Kopf einzogen, wodurch unser Veilchen plötzlich gut zu sehen war. Es vermochte nicht nur seine Fähigkeiten erkennen, sondern diese auch einzusetzen. Plötzlich konnte es sein “Licht auf den Scheffel setzen“. “He, ihr da oben” schrie das Veilchen, das plötzlich eine unverhoffte Sicht auf Himmel und Bienen bekam, “schaut einmal hierhin. Hier unten ist es kühl und angenehm. Meine blaue Farbe ist tiefer als die des Himmels und mein Duft feiner als Rosenduft.”
Unser Veilchen sagte das einfach so, weil es das schon längst einmal hatte sagen wollen und weil es wohl auch stimmte. Die Bienen waren verblüfft. Eine flog vorsichtig nach unten und betrachtete das ungewohnt tiefe Blau des Veilchens.
Selbstbewusst auftreten – Erfolg haben
“Und wenn Du erst mal unseren Veilchen-Nektar schlürfst, wirst Du wissen, was Du bisher versäumt hast”.
Das Veilchen staunte selbst über so viel Unbescheidenheit, aber alles klappte wunderbar und die Weltordnung brach nicht zusammen. Das Bienchen schlürfte Honig vom Feinsten, die anderen Veilchen reckten sich gleichfalls hoch, und immer mehr Bienen fanden den Weg zu ihnen.
Am nächsten Tag beschlossen die Veilchen, den folgenden Spruch zu üben und an alle kommenden Generationen weiterzugeben:
Sei wie das Veilchen im Moose,
duftend an kurzem Stiel,
und nicht wie die lange Rose,
die kostet viel zu viel.Schau
auf das Veilchen im Moose,
es hält was es verspricht.
dann brauchen wir keine Rose
die uns in den Finger sticht.
Gedicht von Gerda Laufenberg